Der Wunsch nach Erkennbarkeit ist in der Rezeption von figurativer Malerei stark verwurzelt. In den Bildern der 34-jährigen Berlinerin Anna Richert ist das Fiktionale ganz bewusst der Erkennbarkeit entraubt. Gewissheiten und Konkretheit werden mitunter so verwischt, als würde man sich in der Tiefe der Farben verheddern und kraft ihrer stetig scharrenden Malspuren auf den Bildträgern wie in einem Treibsand versinken.
Die Malerei der 1990 in Kamyshlov, Russland, geborenen und später mit ihrer Familie als Kind nach Deutschland übergesiedelten Anna Richert, erscheint auf dem ersten Blick in ihrer Einfachheit fast unvollendet und extrem ungewöhnlich, gerade dadurch aber auch sehr offen und in your face.
2011 nahm Anna Richert ihr Studium der Bildenden Kunst an der Universität der Künste (UdK) in Berlin auf, das sie – 2015 unterbrochen durch ein Austauschsemester am Surikow Kunstinstitut in Moskau – mit dem Bachelor of Arts abgeschlossen hat. 2018 war sie Stipendiatin der Dorothea Konwiarz Stiftung. Ein Jahr später folgte ihr Master an der UdK Berlin.
Anna Richerts Maltechnik ist erfreulich unhip, dezent und eigen. Je stärker sie sich mit ihrer immer ausgefeilteren Sfumato-Technik auf die Endzone der gegenständlichen Malerei bewegt, umso mehr wird das Kopfkino angekurbelt.
Figuren können sich nur gerade so durchwursteln. Sind beinahe abhandengekommen. Verstrickte Silhouetten. Ihre Bilder sind bis in jede Ecke hinreißend und oft ohne Gestalten gestaltet. Man ist sich nicht ganz im Klaren darüber was genau man sieht, als stünde man in einem Spiegelkabinett, wo man sich an seinen eigenen Realitätssinn festzuklammern versucht. Man muss es sich förmlich ausmalen, sich wie bei einer Pareidolie herbeidenken und rekonstruieren – in die Bilder, aber auch in sich hineinsehen. Es sind die Art von Bildern, die einen verkniffen anschauen, wenn man ihnen aufmunternd zuzwinkert.
Wären ihre Bilder jedoch bloß undurchdringlich, wäre tatsächlich „nichts dahinter“ – denn gerade eine derart halbklare, eine dermaßen amorphe Malerei wird in der Kunstkritik von je her extrem kritisch beäugt – blieben sie fad oder kraftlos abstrakt.
Anna Richert spielt aber in einer gänzlich anderen Liga. Sich gerade als junge Malerin solch einer möglichen Kritik bewusst auszusetzen, ist daher mutig und entschieden. Sie malt an gegen ein althergebrachtes Erkennbarkeitsregime, bewegt sich dabei, kunsthistorisch gesehen, auf sehr stabilen Pfaden, die spätestens seit dem Pointilismus als klassisch, traditionell, als etabliert und abgenickt gelten sollten. Man fühlt sich in einen Chaim Soutine versetzt, in einen Paul Signac. Ohne dass sie ihre Malerei in kunstgeschichtlichen Honig taucht.
Ihre Malerei kann man im Kontext einer Malerei verstehen, die in der Tradition Francis Bacons Körper verzerrt darstellt und Gesichter geradezu mit Farbe überstülpt, morpht und deformiert. Im Duktus erinnern Anna Richerts Bilder an Joan Mitchell oder an Rita Ackermann. Wie sie ihre Figuren malt, lässt an die Porträts von Elaine de Kooning denken oder neuerdings an die des Slowaken Andrej Dubravsky.
In der zeitgenössischen Malerei erinnert Anna Richerts Malerei an die süffige Malweise der Irin Genieve Figgis, an den Briten George Rouy, an den Finnen Viljami Heinonen. Oder an Tala Madani. Und natürlich muss man in diesem Zusammenhang nicht zuletzt den Rumänen Adrian Ghenie nennen, der in der jüngeren Generation sehr viele Maler*innen beeinflusst hat und geradezu als Role Model für eine befreite, fast besessene junge Malerei gilt.
Ihre Tuschezeichnungen rufen Erinnerungen zu Raymond Pettibon hervor, zu Tracy Emins Drucken und Serigraphien oder zu den großformatigen Zeichnungen des documenta15-Teilnehmers Nino Bulling.
Nennenswert ist jedoch nicht bloß das Wie sondern auch das Was. Ihre Bilder sind auf der einen Seite Versatzstücke aus der vielschichtigen Zitatebene der Populärkultur und Musik. Auf der anderen Seite spielen bei Anna Richert antike Mythen um Frauengestalten eine große Rolle.
So könnte Anna Richerts Bild „Ledas Rache“ aus ihrem Zyklus um Leda mit dem Schwan von den Bildern Elizabeth Peytons über Promis und Celebrities Pate gestanden haben, wie z.B. „Swan (Leonardo die Caprio)“ von 1998. Genauso wie auch Cecily Brown mit ihrer vom selben Mythos inspirierten „Leda and the Swan“-Serie von 2022.
Das Berliner Feuilleton bezeichnet ihre Kunst als „queere Malerei, die strukturelle Diskriminierung aufgreift“. Von ihrer Motivik her sind ihre Bilder in der Rezeption ähnlich assoziativ – wenn auch nicht so ostentativ drastisch, so sexuell aufgeladen und so explizit anarchisch wie die Bilder von Doron Langberg, von Celia Hempton, Lisa Yuskavage oder Jenna Gribbon.
Wenn ihre gemalten Geschlechteridentitäten und Themen wie Queerness und Sexualität sich verwandeln und ins Sagenumwobene abdriften, werden ihre Bilder poetisch. Dann sehen wir „Meerjungfrauen, die gegen das Patriarchat kämpfen.“ (2023 Tip Berlin).
Ähnlich wie bei Kiki Smiths Figuren und Meerjungfrauen bevölkern dann weibliche Archetypen ihre Bilder. Eine Fabelwelt aus Nixen, Sirenen und Nymphen sind dann Leitmotive, die sie wie eine Zeitreisende stimmig in Szene setzt.
Das so ein Allerleirauh aus märchenhaft versponnen surrealen Codes, das Meerjungfrauen auch heutzutage im zeitgenössischen Diskurs noch immer Kontroversen auslösen und eine eigenartige gesellschaftlichen Dimension mit sehr viel Sprengstoff beinhalten können, zeigte erst 2018 eine Ausstellung von John William Waterhouse im Manchester Art Gallery Museum. Es kam zum Skandal. Obwohl pure viktorianische Malerei aus dem 19. Jahrhundert wurden seine Sirenen und Meerjungfrauen abgehängt und verhüllt.
Meerjungfrauen zu malen ist also mitnichten rückwärtsgewandt, anachronistisch, kurios determiniert oder gar eskapistisch, sondern auf der Höhe der Zeit. Wie hochaktuell und relevant solche Themen sind, zeigt sich einmal mehr auf der diesjährigen Biennale in Venedig, die das Feuilleton des Wochenmagazins ZEIT gerade als „Biennale der Mythen und Märchen“ bezeichnet hat.
Anna Richerts Nixen schwimmen mit genau dieser Strömung. Ihr gender-fluides mythenumranktes Mermaiding ist gefluteter, verflüssigter feministischer Zeitgeist. Ein raffiniertes Plädoyer für queere Identitäten.
So sperrig ihre Stilistik zunächst auch anmuten mag – und das ist ihr eigentlicher Kunstgriff, den sie sehr souverän anbringt – so zugänglich aber auch so fancy sind in der oft auftretenden konterkarierenden Zitatebene ihre Motive. Ihre erratische und intrinsische Malerei ist nicht bloß eine stilistische Befreiung von der Figur, sondern darüber hinaus auch ein brisantes und modernes Statement und Spiel mit Gender-Identitäten und kunstgeschichtlichen Referenzen. All ihre Bilder sind mythologisch fundiert, uneitel und beinahe weise zu nennen.
Und rekapituliert man all das spricht ihre Malerei nicht nur für Handschrift, sondern für Haltung.